Gelungene Metamorphose eines Betonmonsters
Abreissen wäre einfacher gewesen. Doch die Umnutzung des ehemaligen Weinlagers von Coop in Basel spart nicht bloss graue Energie. Die Geschichte des Baus aus den 1950er-Jahren wird durch den Bestand erlebbar.
In diesem Haus steckt Musik. Und zwar zehn Meter unter der Erde, um präzise zu sein. In einer «dreischiffigen Kathedrale» von sechs Metern Höhe wurden im tiefen Keller zwischen zwei Betonsäulenreihen alte Weintanks durch sieben Boxen von vier Metern Höhe ersetzt: Es sind Proberäume für richtig laute Instrumente und Bands. Darüber wohnen – völlig ungestört davon – auf sieben oberirdischen Geschossen über 170 Menschen in aussergewöhnlichen Wohnungen. Das heutige «Weinlager» ist der (vorläufig) krönende Abschluss einer Geschichte, die vor siebzig Jahren beginnt. Industriequartier St. Johann, 1955: Zehn Jahre nach Kriegsende baut der Grossverteiler Coop hier ein Weinlager. Es ist ein mächtiger Zweckbau, der keinen Grund hat, architektonisch zu glänzen. Er muss funktional sein und tragen.
Das «zweite Leben»
1973 beginnt das «zweite Leben» des Weinlagers. Es wird zum Verteilzentrum. Für diese Aufgabe muss es höher, breiter, zugänglicher sein. Zwei Stockwerke werden aufgesetzt. Doch dann ändert sich die Dynamik der Stadt. Sie fordert Platz für die Menschen, die dort leben. Es entstehen Industriebrachen, Transformationsgebiete, die neu genutzt sein wollen. Weil die Stadt aber auch Wohnraum braucht, drängt sich in unmittelbarer Nachbarschaft das Areal Lysbüchel geradezu auf, neu genutzt zu werden. 2013 gelingt es der Stiftung Habitat, den südlichen Teil zu erwerben. Ihr Ziel ist es, hier ein durchmischtes, lebendiges Quartier zu schaffen. Das kann und will sie nicht im Alleingang schaffen und tut sich mit zehn weiteren Genossenschaften zusammen. Das komplizierteste Projekt allerdings gibt die Stiftung nicht aus der Hand: das ehemalige Weinlager von Coop. Dieses soll nicht einfach abgerissen, sondern zum Mehrgenerationenhaus umgebaut werden: ökologisch und sozial nachhaltig. Es ist eine Herausforderung, die Marco Rickenbacher gerne annimmt. Als Partner bei Esch Sintzel Architekten ist der 38-Jährige federführend in der gesamten Projektierung. Erstmals beschäftigt er sich dabei im grossen Stil mit einer Umnutzung und nicht mit einem Neubau.
Geschichte, Bestand, Nutzung
Dies habe ihm völlig neue Dimensionen eröffnet, sagt er: «Denn es geht um die Geschichte des Objekts, den vorhandenen Bestand und die neue Nutzung des Gebäudes.» Themen, mit denen er sich bei konventionellen Neubauten bisher kaum auseinanderzusetzen brauchte. «Das hat uns aber nicht eingeschränkt, sondern uns kreativer gemacht», sagt Rickenbacher. Was im Weinlager während des aufwendigen Entwicklungs- und Bauprozesses, der sein «drittes Leben» einläuten sollte, entstanden ist, ist schlichtweg einzigartig. Habitat wollte aus dem überdimensionalen Stahl- und Betonmonster ein modernes Mehrgenerationenhaus für 150 bis 180 Personen machen. Anders als bei üblichen Genossenschaftsbauten, die auf der grünen Wiese entstehen, war da aber noch der Bestand, der zumindest einen nennenswerten Teil des neuen Gebäudes ausmachen sollte. Bestehen blieb, was Sinn macht. Am Ende war dies knapp die Hälfte des ursprünglichen Baus, vor allem Decken und Pilzsäulen. Letztere sollten zu den eigentlichen Protagonisten des neuen Weinlagers werden. Denn statt diese einzumauern, wurden sie regelrecht inszeniert.
42 Prozent graue Energie
Doch es geht nicht nur um den Charakter des Gebäudes. Bestand bewahren bedeutet auch, graue Energie sparen. Im Fall des Weinlagers sind dies stolze 42 Prozent, obwohl mehr als die Hälfte des Gebäudes zurückgebaut wurde. Im Frühjahr 2023 hat das «dritte Leben» des Weinlagers begonnen. Das ehemalige Lagerhaus beherbergt heute, über sieben Geschosse verteilt, 64 Wohnungen zwischen 1,5 und 7,5 Zimmern.