Eva Schmidt leitet die Fachstelle Hindernisfreie Architektur. Die diplomierte Architektin sieht auf dem Weg zur barrierefreien Schweiz viele Fortschritte, aber auch noch einige Baustellen.
Im Vergleich mit dem Ausland stehen wir meiner Meinung nach recht gut da. In den letzten 20 Jahren gab es enorme Fortschritte. Gerade bei der Mobilität hat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) von 2004 viel bewirkt. Neubauten stellen nur selten Probleme dar, doch der grösste Teil des Schweizer Gebäudeparks besteht aus älteren Bauten. In diesem Bestand geht die Veränderung viel langsamer voran. Deshalb stellen alltägliche Situationen wie ein Kino- oder Restaurantbesuch für viele Menschen mit Behinderung immer noch eine Schwierigkeit dar.
Es gibt Städte mit vielen Hochparterre-Bauten. Bis man überhaupt ins Gebäude gelangt, müssen schon verschiedene Stufen überwunden werden. Bei bestehenden Bauten ist der Platz meist beschränkt und fehlt etwa für den Einbau einer Rampe oder eines grösseren, normgerechten Aufzugs.
Wichtig sind praxisgerechte Normen und Richtlinien. Deshalb erarbeiten wir Grundlagen zum hindernisfreien Bauen, publizieren Planungshilfen und wirken in verschiedenen Normenkommissionen mit. Wir erforschen die konkreten Erfahrungen von behinderten und älteren Menschen, formulieren Anforderungen und übertragen diese in die ‹Planungssprache›.» So verstehen Planerinnen und Architekten, was notwendig ist. Besonders wichtig sind uns auch Anwendungsbeispiele. Denn Kommentare und konkrete Beispiele machen eine Norm erst fassbar.
In der Schweiz haben wir ein Netz von 26 kantonalen Fachstellen, die die Interessen von Menschen mit Behinderung beim Vollzug des hindernisfreien Bauens vertreten. Sie prüfen die Bauprojekte, leisten Beratungsarbeit und helfen bei der Suche nach Lösungen. Diese Organisation hat sich sehr bewährt. Es gibt punktuell auch Einsprachen, doch das Verbandsbeschwerderecht muss nur selten genutzt werden. Meistens gelingt es, im Dialog mit der Bauherrschaft die Probleme zu lösen.
Da gibt es ganz unterschiedliche Haltungen. Viele Bauherrschaften wollen Gebäude, die für alle Generationen funktionieren, und sind deshalb recht offen für eine hindernisfreie Bauweise. Andere Bauträger sind vor allem kostensensibel. Die Vorgaben für den Brandschutz oder die Erdbebensicherheit lassen sich nicht umgehen – beim hindernisfreien Bauen versuchen sie, dafür zu sparen. Und schliesslich wertet ein Teil der Architektinnen und Architekten die Gestaltungsfreiheit höher als die Hindernisfreiheit. Da müssen wir ab und zu klar machen, dass nicht nur die Ästhetik wichtig ist, sondern auch und zuerst die Benutzbarkeit und Sicherheit von hoher Bedeutung sind.
Nein, leider werden auch Aufzüge gebaut, die nicht hindernisfrei zugänglich sind, und zwar wegen der komplexen Normensituation. Die kantonalen Baugesetze regeln, welche Gebäude die Norm SIA 500 einhalten müssen. Damit ein Aufzug aber auch zugänglich und nutzbar ist, muss er nach der Aufzugsnorm SN EN 81-70 «Zugänglichkeit von Aufzügen» bestellt werden. So ist es möglich, dass in Gebäuden die nicht unter die Norm SIA 500 fallen, zwar ein Aufzug eingebaut wird, dieser aus «gestalterischen Gründen» aber nicht autonom nutzbar ist. Eine ziemlich absurde Situation, wie wir meinen.
Nach unseren Erfahrungen bemühen sich die Hersteller sehr darum, ihren Kunden die Vorteile hindernisfreier Aufzüge darzulegen. Doch eine grössere Kabine, ein horizontales Tableau, eine Sprachansage oder eine blendfreie Beleuchtung sind kostenpflichtige Extras. Als Kundin muss ich mehr bezahlen, wenn ich eine Anlage will, die für alle Benutzerinnen und Benutzer funktioniert. Das ist, als ob ich beim Auto die Sitzgurte und den Aufprallschutz extra kaufen müsste.
Oft sind sie die Lösung, die sich am schnellsten realisieren lässt. Wir sind aber der Meinung, dass ein Treppenlift immer eine Notlösung darstellt. Denn von einem Vertikalaufzug profitieren alle Benutzerinnen und Benutzer einer Liegenschaft, nicht nur Menschen mit Behinderung.
Das Bewusstsein, mit dem Schindler an das Thema herangeht. Solche Kontakte ermöglichen uns, grundlegende Fragen zur Hindernisfreiheit von Standardprodukten vorzubringen. Bei individuellen Anpassungen von Aufzügen stellt sich oft die Frage, wer dafür zuständig ist. Hier schätzen wir den unkomplizierten Zugang zu Schindler sehr. Ebenso können wir Rückmeldungen aus dem Alltag von Menschen mit Behinderung einspeisen. So können die Fachleute bei Schindler besser verstehen, auf welche Probleme Menschen mit Behinderung stossen und wie man den Aufzug für sie noch besser gestalten könnte.
Die demografische Entwicklung ist ein starker Treiber, insbesondere im Wohnungsbau. Weil der Anteil älterer Menschen beständig steigt, müssen die Wohnungen für möglichst alle Generationen nutzbar sein. Das Konzept der Fachstelle zum anpassbaren Wohnungsbau ist mittlerweile bei den Bauherrschaften angekommen. Zudem hat die Bauindustrie grosse Fortschritte gemacht. Vieles, was vor 20 Jahren noch eine teure Spezialanfertigung war, ist heute Standard. Ich denke da zum Beispiel an schwellenlose Übergänge oder begehbare Duschen. Hindernisfreie Bauten sind für uns alle ein Gewinn, unabhängig von unserem Alter und möglichen Einschränkungen.
Eva Schmidt ist diplomierte Architektin ETH. Sie arbeitet seit 1995 bei der Schweizer Fachstelle Hindernisfreie Architektur (bis 2017 Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen). Dort hat Schmidt den Fachbereich sehbehinderten- und blindengerechtes Bauen aufgebaut. 2018 übernahm sie die Geschäftsführung der Fachstelle. Als Expertin hat sie aktiv an nationalen und internationalen Normen zum hindernisfreien Bauen mitgearbeitet. Eva Schmidt ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und lebt in Aarau.