Die Zementversteherin
Karen Scrivener hat einen Zement erforscht, dessen Herstellung rund ein Drittel weniger CO2 verursacht als herkömmlicher Zement. Aus Sicht der EPFL-Professorin führt auch in Zukunft kein Weg um diesen Baustoff herum. Idealismus sei in der Klimadebatte fehl am Platz.
Karen Scrivener kommt gerade aus China zurück, als sie uns in ihrem Büro an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) begrüsst. Die Frage, wie es um den Jetlag stehe, lacht sie weg, und ein Blick in die wachen Augen der 65-jährigen Engländerin macht deutlich, dass sich dieser Geist von ein paar Stunden Zeitverschiebung nicht beeindrucken lässt. In Peking hat sie mit Industrievertretern, Studentinnen und Politikern über LC3 gesprochen, das Ergebnis der jahrelangen Forschungsarbeit ihres Teams.
Vereinfacht gesagt geht es darum, bei der Zementherstellung einen Teil des sogenannten Klinkers, dessen Produktion viel Energie benötigt und CO2 freisetzt, durch eine Kombination aus kalziniertem Ton und Kalkstein zu ersetzen. Das Ganze nennt sich «Limestone Calcined Clay Cement» – kurz LC3. Im Vergleich mit herkömmlichem Zement wird bei der Herstellung von LC3 rund ein Drittel weniger CO2 freigesetzt, womit das Produkt mittelfristig einen riesigen Beitrag zur Treibhausgasreduktion leisten könnte. Zement gilt als Klimakiller schlechthin. Rund 8 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen entstehen bei der Herstellung dieses Baustoffs. Wäre es da nicht sinnvoller, auf andere Baustoffe zu setzen oder schlicht weniger zu bauen?
«Doch, natürlich», sagt Scrivener. «In Industrieländern wie der Schweiz kann man trefflich über diese Frage diskutieren. Aber aus Sicht der Schwellen- und der Entwicklungsländer ist das eine Luxusdebatte.» Für diese Länder sei Zement unverzichtbar, es gäbe schlicht keinen besseren Baustoff, der in so grosser Menge vorhanden, so einfach und vielseitig einsetzbar und erst noch preisgünstig sei. «Wir dürfen in der Klimadebatte nicht immer nur auf unsere unmittelbare Umgebung schauen», sagt Karen Scrivener. «Natürlich wäre es toll, wenn wir alle unsere Häuser aus Holz bauen könnten. Aber erzählen Sie das mal den Leuten in einem Land wie Malawi, für die Holz als Brennstoff beim Kochen unverzichtbar ist. Oder gehen Sie nach Kenia oder Vietnam und empfehlen Sie der Bevölkerung, auf Zement zu verzichten und doch besser bestehende Strukturen umzunutzen. Dort kommen Sie mit diesen hehren Ansätzen nicht weit.»
Um die Bauindustrie nachhaltig zu verändern, brauche es Verbesserungen entlang der ganzen Wertschöpfungskette, und deshalb mache es Sinn, bei der Herstellung der Baustoffe anzusetzen. Auch einem komplexen Thema wie dem Klimawandel begegnet sie analytisch und rational. Idealismus ist ihr fremd. «Er bringt uns nicht weiter», sagt sie. «Idealismus birgt vielmehr die Gefahr, dass wir unsere Zeit, unsere Energie und unser Geld für schöne, aber komplett unrealistische Ideen verschwenden.» Ist es denn nicht schon zu spät, um in der Klimakrise das Ruder noch herumzureissen? «Es ist nie zu spät», sagt Scrivener. «Man hat immer Zeit, um die Dinge weniger schlecht zu machen.»
Dass sie mit dieser rationalen Haltung bisweilen als Fürsprecherin der Zementindustrie wahrgenommen wird, nimmt Scrivener mit einem Achselzucken zur Kenntnis. «Es gibt so viele Missverständnisse und so viel Negativität, wenn über Zement gesprochen wird, da muss doch irgendjemand hinstehen und diese Dinge klarstellen.» Scrivener hat sogar einige Jahre selbst in der Industrie gearbeitet. In den Neunzigerjahren war sie für Lafarge in Frankreich tätig. Als sie 2001 an die EPFL kam, suchte sie schnell den Kontakt zu den Zementherstellern und überzeugte sie davon, in die Grundlagenforschung zu investieren. LC3, der klimafreundlichere Zement, ist ein Ergebnis davon. Scrivener ist zuversichtlich, dass bis in 15 Jahren etwa ein Drittel der weltweit rund 3000 Zementfabriken LC3 herstellen werden. Schon jetzt hätten alle Grosskonzerne entsprechende Projekte initiiert.